Tierschutz

Einteilung dieser Seite:

  1. Zuerst der Versuch einer Definition
  2. Tierschutz und Kultur
  3. Ich betreute am Bundesamt für Veterinärwesen auch Tierschutzaspekte
  4. Die erste Revision des Kapitels 4, des Anhangs 2
  5. Die zweite Revision des Kapitels 4, des Anhangs 2 und die neue Tierschutzgesetzgebung 2008
  6. Der Bedarfsansatz

 

 

1. Zuerst der Versuch einer Definition

Bei meiner Tätigkeit als „Chef Artenschutz“ im Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) stellte ich immer wieder fest, wie diffus die Begriffe „Artenschutz“ und „Tierschutz“, verwendet werden, und zwar nicht nur von der breiten Öffentlichkeit, sondern auch von den Medien und selbst von Organisationen, die sich dem Artenschutz oder dem Tierschutz verschrieben haben. Artenschutz (oder „Arterhaltung“) und Tierschutz haben jedoch unterschiedliche Ziele und Arbeitsmethoden und befassen sich mit unterschiedlichen Inhalten.

 

So geht es bei der Arterhaltung („species conservation“) um die Sicherung und Bewahrung der Existenz ganzer Tier- und Pflanzenpopulationen, insbesondere den Schutz von Tier- und Pflanzenpopulationen vor der Ausrottung durch den Menschen oder vor dem Aussterben aus anderen Gründen. Arterhaltung schliesst „Artenförderung“ und  "Artenbewirtschaftung"  („Artenmanagement“) ein.

Das heisst, dass z. B. Hegeabschüsse – also selbst das Töten von Tieren – im Interesse der Arterhaltung stehen können, nämlich dann, wenn der Bestand einer Tierart oder einer Population die „Tragfähigkeit“ (= "carrying capacity“), des Lebensraums übersteigt und dieser Bestand, wenn nicht regelnd eingegriffen würde, so geschwächt oder beeinträchtigt werden könnte, dass sein Überleben in Frage gestellt wäre. Dazu muss man wissen, was unter dieser „carrying capacity“ gemeint ist. Es bedeutet die maximale Anzahl von Angehörigen einer bestimmten Tierart, die in einem Lebensraum oder Habitat, dank der dort vorhandenen Ressourcen (Nahrung, Wasser, Nistplätze usw.) über eine unbegrenzte Zeitspanne existieren kann. Viele Leute wollen oder können nicht begreifen, dass die Natur nicht unbegrenzt Raum für Tiere bietet. Wenn die Ressourcen und die Habitatqualitäten nicht ausreichen, geht die Zahl der Tiere zurück und alle Aussetzungsversuche, wie die, welche beispielsweise in unserem Land jahrelang mit Hasen oder Fasanen gemacht wurden, führen nicht zu einer langfristigen Erholung oder Vergrösserung der Population – weil man eben über diese „carrying capacity“ nicht hinausgehen kann. Daraus folgt, dass, wie erwähnt, Hegeabschüsse, beispielsweise beim Alpensteinbock in der Schweiz (einem im Prinzip vollständig geschützten Tier), im Interesse der Arterhaltung stehen können, weil sie nämlich eine Überweidung der Alpwiesen und damit eine Zerstörung der eigenen Nahrungsgrundlage verhindern helfen. Entsprechendes gilt für die Elefantenbestände in einigen Ländern Südafrikas, insbesondere dort, wo Elefanten in Nationalparks oder Naturreservaten „eingesperrt“ sind. Auch beim Fuchs mag u. U. eine jagdliche Reduktion gewisser Bestände sinnvoll sein, um eine zu grosse Dichte und damit eine zu starke Schwächung der Individuen zu verhindern. Es wird auch argumentiert, dass damit gleichzeitig auch der Entstehung und Verbreitung von Krankheiten vorgebeugt werden kann. Allerdings wird dies heute zunehmend bestritten. Was die Bejagung von Huftieren (Rehe, Hirsche) anbelangt, so kann auch diese einer Schädigung der Nahrungsgrundlagen, ja des Habitats, entgegenwirken, nämlich dann, wenn der Verbiss an Jungpflanzen alarmierende Ausmasse annimmt. In den USA hat man übrigens festgestellt, dass die Bestandesregelung durch den natürlichen Feind dieser Huftiere, den Wolf, dieselbe Auswirkung, nämlich eine Verbesserung des Pflanzenbewuchses, hat. Der Wolf trägt somit indirekt zur Erholung und Verbesserung des Lebensraums bei. Artenschutz kann aber auch das Einfangen von Wildtieren und die Zucht in menschlicher Obhut über eine gewisse Zeit bedingen, um dann, wenn die Bedingungen im natürlichen Lebensraum wieder günstig sind, die Tierart wieder auszusiedeln. Zoos spielen hierbei heute eine wichtige Rolle (s. z. B. Kalifornischer Kondor, Schwarzfussiltis [Englisch, Deutsch]).

 

Beim Tierschutz („animal protection“) handelt es sich um etwas anderes. Hier geht es um den Schutz von einzelnen Tierindividuen vor Schmerzen, Leiden, Schäden und Angstzuständen, die ihnen primär aus dem Verhalten des Menschen aber auch aus anderen Gründen entstehen könnten. 

 

An folgenden Beispielen sei der Unterschied zwischen Arten- und Tierschutz verdeutlicht: Wenn jemand im Herbst untergewichtige Igel zu sich nimmt und aufpäppelt, tut er dies aus Tierschutzgründen. Im Interesse der Arterhaltung wäre es jedoch womöglich besser, wenn diese schwachen Tiere nicht überleben würden und man den Schutz der Igel mit Massnahmen betreiben würde, die das Habitat aufwerten. Entsprechendes gilt für die mancherorts immer noch praktizierte Fütterung von Hirschen oder Rehen im Winter, welche gegebenenfalls auch schwächlichen Individuen ein Überleben ermöglicht, das vielleicht nicht im Interesse der Art ist.

In der nachfolgenden Galerie soll an einigen weiteren Beispielen  illustriert werden, welche Phänomene gemeint sind, wenn man von "Tierschutz" spricht (hier im besonderen im Zusammenhang mit der Haltung von Wildtieren). (s. auch Galerie auf der Seite "Zoo")

Die Galerie befindet sich im Aufbau

 

2. Tierschutz und Kultur

Im Jahre 1997 veröffentlichte der damalige Chef der Sektion Tierschutz des Bundesamtes für Veterinärwesen und spätere Professor für Tierschutz an der Universität Bern, Andreas Steiger, zusammen mit seinem deutschen Kollegen, Hans Hinrich Sambraus, Professor für Tierhaltung und Verhaltenskunde der Technischen Universität München, im Enke Verlag "Das Buch vom Tierschutz", wo ich auch zwei Beiträge beisteuern durfte. Ich habe nun keineswegs die Absicht, hier eine Kurzfassung dieses Buches zu schreiben noch wortwörtlich einzelne Abschnitte daraus wiederzugeben. Deshalb: Wer sich für die mannigfachen Facetten des Tierschutzes interessiert, dem sei das Studium dieses Buches empfohlen. Was dabei auffällt, ist, dass Tierschutz und der Tierschutzgedanke, so wie wir ihn heute bei uns kennen, eigentlich erst im 19. Jahrhundert, also relativ spät in der Kulturgeschichte der Menschheit auftaucht.

 

In diesem Zusammenhang und aufgrund meiner Erfahrungen mit Menschen aus anderen Ländern, möchte ich folgende Gedanken zum Thema „Tierschutz und Kultur“ hier anmerken: Mir scheint, dass zwei Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Menschen Tiere gemäss der eingangs formulierten Definition schützen können. Erstens: Sie müssen Kenntnisse über die Biologie, Anatomie, Physiologie und Ethologie der Tiere haben und damit auf naturwissenschaftlicher Basis erkennen, wie nahe wir Menschen den Tieren sind. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass es nicht ausreicht, Tiere einfach „gern zu haben“, vielleicht sogar aus einer anthropozentrischen, also vermenschlichenden Warte aus, weil „Tierschutz“ so fehlgeleitet und sogar ins Gegenteil verkehrt werden könnte. Zweitens: Sie müssen den Tieren gegenüber zu „Empathie“ fähig sein, das heisst, sich kognitiv (also klar denkend) gewissermassen in ein anderes Lebewesen hineinversetzen, sich seine Gefühle vorstellen und sein Handeln begreifen können, kurz über ein Einfühlungsvermögen in Tiere verfügen. Man bedenke, dass der französische Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes (1596 – 1650) Tieren jegliche „Denkseele“ und damit auch eine reflektierte Wahrnehmung von Schmerz absprach und sie als lebende, empfindungslose Maschinen bezeichnete.

 

In seinem Buch „Bruder Hund & Schwester Katze“ weist Jürgen Körner die Bedeutung dieser beiden Voraussetzungen nach und er zeigt auch, wie lange es ging, bis sie in unserer christlich-abendländischen Kultur erfüllt waren, um Tierschutz im heutigen Sinn zu ermöglichen. Während es in England und Irland beispielsweise bereits um 1821 ein eigenständiges Tierschutzgesetz gab, war dies im restlichen Europa erst im letzten Jahrhundert der Fall, d.h. es ist also gar noch nicht so lange her. Es ist deshalb kein Wunder, dass die Einstellung dem Tier gegenüber in manchen anderen Ländern und Kulturkreisen nach wie vor eine andere ist und der Tierschutzgedanke in unserem Sinn erst allmählich weltweit Fuss zu fassen vermag. Dabei – ich gestehe es – gehen wir von der eigentlich anmassenden Annahme aus, dass unser Weg und unsere Einstellung die richtigen und andere Wege und Einstellungen falsch seien.

 

Dazu eine kleine Geschichte: Eine meiner ersten Aufgaben als Oberassistent an der Ethologischen Station Hasli im Jahre 1981 war es, eine Delegation von Universitätsprofessoren aus China während eines Wochenendes zu betreuen, ihnen unsere Station zu zeigen und unser Arbeitsgebiet zu erklären. Es war beeindruckend, diese hochintelligenten, fast perfekt Englisch sprechenden und verstehenden Wissenschaftler, die vielleicht zum ersten Mal eine solche Reise aus dem damals noch streng kommunistischen China machen durften, zu treffen. Sie zeigten grosses Interesse an unserer Station und an unseren Arbeiten auf dem Gebiet der Grundlagenforschung der Ethologie, wie auch der angewandten Ethologie (Haustierethologie, Ökoethologie, Mensch-Tier-Beziehung). Sie begriffen klar, was wir machten, und um was es ging, aber es war ihnen schlichtweg unbegreiflich, wieso wir Zeit und Energie darauf verwendeten, um Tiere besser verstehen zu können, um zu wissen, warum und wozu Tiere sich so oder so verhalten. Ohne dass aus solcher Forschung ein direkter Nutzen für den Menschen resultierte, machte sie für diese Professoren keinen Sinn. Forschung an Tieren um der Tiere willen, war für sie sinnlos. Vermutlich ist die Situation heute in China anders, aber damals wäre es wohl auch schwierig gewesen, ihnen unser Tierschutzkonzept zu erklären.

 

3. Ich betreute am Bundesamt für Veterinärwesen auch Tierschutzaspekte

Das erste eigenständige Tierschutzgesetz der Schweiz stammt – man glaubt es kaum - aus dem Jahre 1978 und es trat, zusammen mit der Tierschutzverordnung, erst 1981 in Kraft. Damit – und das geht heute fast vergessen – wurde der Tierschutz und sein Vollzug erstmals zur Aufgabe des Staates und seiner Behörden. Das Tierschutzgesetz (TSchG) sollte das Grundsätzliche und die Rahmenbedingungen festlegen und die Tierschutzverordnung (TSchV) die Ausführungsbestimmungen enthalten und die Details regeln. Effektiv fanden sich in jenem Tierschutzgesetz aus dem Jahre 1978 grundsätzliche Bestimmungen, wie „Tiere sind so zu behandeln, dass ihren Bedürfnissen in bestmöglicher Weise Rechnung getragen wird“ oder „Niemand darf ungerechtfertigt einem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen oder es in Angst versetzen“ und „Der Bundesrat erlässt nach Anhören der interessierten Kreise Vorschriften über das Halten von Tieren, namentlich über Mindestabmessungen“. Aber auch die Tierschutzverordnung aus dem Jahre 1981 enthielt weitere allgemeine Vorschriften zur Tierhaltung, wie „Tiere sind so zu halten, dass ihre Körperfunktionen und ihr Verhalten nicht gestört werden und ihre Anpassungsfähigkeit nicht überfordert wird.“ Oder „Fütterung, Pflege und Unterkunft sind angemessen, wenn sie nach dem Stand der Erfahrung und den Erkenntnissen der Physiologie, Verhaltenskunde und Hygiene den Bedürfnissen der Tiere entsprechen“. Weiterhin enthielt die Tierschutzverordnung in der Folge auch noch allgemeine Bestimmungen zu Fütterung, Pflege, Unterkunft und zu den Gehegen (dort stand u.a. „Gehege müssen den vorgeschriebenen Mindestanforderungen entsprechen“). In einzelnen Kapiteln wurden dann aber auch spezielle Bestimmungen für die Haltung von Rindern, Schweinen, Hunden usw. aufgeführt, und ein eigenes Kapitel (Kapitel 4) war der Haltung von Wildtieren gewidmet. Die Verordnung unterschied dabei zwischen „gewerbsmässigen Wildtierhaltungen“ (z. B. Zoos, Zirkusse, Wildparks, Volieren, Hirsch- und Straussenzuchten), und privaten Wildtierhaltungen. Die gewerbsmässige Wildtierhaltung war prinzipiell bewilligungspflichtig und was die private Wildtierhaltung anbelangt, so enthielt die Verordnung eine Liste von Tierarten, deren Haltung ebenfalls bewilligungspflichtig war. Für eine Reihe weiterer Tierarten brauchte es zur Erteilung der Haltebewilligung sogar zusätzlich das Gutachten eines anerkannten Fachmannes, welches nachwies, dass die tiergerechte Haltung gesichert war. In einer BVET Broschüre mit dem Titel „Die Regelung der Wildtierhaltung in der Schweiz“, suchte ich diese und andere gesetzlichen Bestimmungen zur Wildtierhaltung für eine breite Öffentlichkeit allgemein verständlich darzustellen.

 

Wie bereits andernorts erwähnt, gehörte nämlich die Betreuung dieses Kapitels 4 auch in mein Pflichtenheft als Chef der Sektion Artenschutz. Nun darf man sich nicht vorstellen, dass „Betreuung“ heisst, dass ich einzelne Artikel der Tierschutzverordnung nach Belieben verändern und anpassen konnte, sondern primär ging es darum, den für den Vollzug verantwortlichen kantonalen Veterinärbehörden bei der Interpretation der Bestimmungen Hilfe zu leisten („für eine einheitliche Anwendung zu sorgen“), präzisere Ausführungsbestimmungen („technische Ausführungsvorschriften“) zu verfassen und Ausbildungskurse für die kantonalen Vollzugsorgane zu veranstalten oder daran mitzuwirken. So begleitete ich also oft den zuständigen kantonalen Tierarzt oder Tierschutzbeauftragten als Experte des Bundesamtes bei der Kontrolle irgend einer Wildtierhaltung. Neben vielen interessanten, erbaulichen und erfreulichen Erlebnissen, gab es bei diesen Kontrollbesuchen manchmal auch Unerfreuliches oder gar Deprimierendes zu sehen und man fragte sich dann, „muss das wirklich sein ?“ (s. dazu auch die Galerie oben). Ein paar weitere Beispiele sollen dies illustrieren:

 

Ein mittelgrosser Zirkus hielt in seinem Winterquartier u.a. Schimpansen in einem Käfigwagen, der die Vorschriften in keiner Weise erfüllte. Als wir dies entsprechend beanstandeten, sagte uns der Besitzer, es handle sich bloss um ein temporäres Provisorium, denn er baue nun für diese Tiere ein eigenes Menschenaffenhaus. Dieser Bau bestand jedoch praktisch nur aus dem Fundament und etwas Mauerwerk, wobei der Anschluss an eine Strom- und Wasserzufuhr schlichtweg vergessen worden war. Und für die Besucher wären, bei Einbezug eines ausreichenden Sicherheitsabstandes zu den Gehegen im geplanten Innenraum vielleicht noch ca. 1,5m2 zur Verfügung gestanden. Das war dann gleich das Ende des Projekts und auch jener Schimpansenhaltung.

 

Bei der gleichen – vorangekündigten - Inspektion im Winterquartier dieses Zirkus fiel uns auf, dass die – ebenfalls nicht den Mindestanforderungen entsprechenden - Abteile für einige andere Affenarten in den Käfigwagen nicht nur auffallend sauber und mit frischem Sägemehl reichlich eingestreut, sondern dass den Tieren auch erstklassige, wunderbar grosse Heidelbeeren als Futter gereicht worden waren. Diese rührten die Affen jedoch überhaupt nicht an. Sie hatten nämlich so etwas wohl noch nie vorher in ihrem Leben erhalten und erkannten die Beeren nicht als Futter.

 

Eine Privatperson hielt während der Sommerzeit zwei riesige Alligatoren in seinem Garten, der von einem niedrigen Zäunchen umgeben war und direkt an den Parkplatz eines Restaurants angrenzte. Den Winter verbrachten die Tiere in einem Treibhaus. Dies machte es erforderlich die schweren Panzerechsen zwei Mal pro Jahr von Hand bzw. auf einer Schubkarre (!) vom einen zum anderen Quartier zu transportieren.

 

In einem mittelgrossen Zoo führte uns der Besitzer an eine grosse Voliere (ca. 15mL x 5mB x 4mH). Dort drin befanden sich einige grössere Eulen und eine einzige, quer über eine Ecke montierte Dachlatte als Sitzstange. Als wir diese beanstandeten und ihm erklärten, die Vögel könnten ja gar nicht von dieser – völlig ungeeigneten - Stange auf eine andere Sitzgelegenheit fliegen, sondern nur ans gegenüberliegende Gitter, wo sie sich festklammern und die Flügelfedern beim Schlagen beschädigen würden, entschuldigte er dies damit, dass es sich halt um eine vorübergehende Haltung handle, bis das neue Gehege fertig sei. Diese Entschuldigung zog natürlich bei uns nicht. Aber hellhörig geworden, wollten wir die sich im Bau befindende neue Anlage ebenfalls sehen. In der Tat entstanden an anderer Stelle einige - deutlich kleinere - Volieren für die Vögel. An Innenstruktur war nichts vorhanden. Da die Bauarbeiter gerade im Begriff waren, die Dachkonstruktion fertig zu montieren, stellte ich die Frage, wie denn die Sitzgelegenheiten (grössere, mit reichlich Sitzästen ausgestattete Baumkronen) in die Gehege verbracht werden sollten, wenn alles umschlossen sei. Daran hatte der Zoobesitzer überhaupt nicht gedacht und befahl seinen Arbeitern sofort, die Montage des Daches vorerst auszusetzen.

 

Ein Kleinzoo hatte dagegen in der Tat grössere liegende Baumkronen als Klettermöglichkeiten und erhöhte Liegeflächen für seine Pumas im Inneren des Geheges angebracht, Nur wies wohl kein einziger Ast einen grösseren Durchmesser als 10 cm auf. Wie die Pumas darauf liegen sollten, wusste wohl nur der Zoobesitzer.

 

Eine Frau hatte in ihrer Wohnung etwa 12 Hunde, die den Tag jeweils in Gruppen voneinander getrennt in einzelnen Zimmern verbrachten. Auf die Frage, wie denn die Frau, neben ihrer normalen Arbeit, den Tieren Auslauf bot, sagte sie, sie gehe nicht nur regelmässig mit den einzelnen Gruppen spazieren, sondern sie böte ihnen auch mehrmals pro Tag die Möglichkeit zu einem Auslauf im Garten. Leider lag in eben diesem Garten eine relativ dicke, mehrere Tage alte Schneedecke – ohne eine einzige Hundespur.

 

In einem Westschweizer Kanton ersuchte jemand um eine Bewilligung für ein Schulungszentrum Biologie. Zu diesem Zentrum gehörte ein Reptilienhaus mit ca. 40 neu gebauten Terrarien und ein sich noch im Bau befindender grosser Aquarienkomplex. Bei der Anfahrt zu dieser Anlage kam uns auf der Hauptstraße eine grössere Landschildkröte entgegen, die wir ins Auto nahmen und dem Besitzer übergaben. Er zeigte sich in keiner Weise überrascht und verbrachte das Tier sofort wieder in sein „Gehege“, ein kreisrundes Gitter mit ca. 1 m Durchmesser, wie man es zur Kompostierung von Gartenabfällen braucht. Die Maschengrösse war derart, dass das Tier und andere, sich in diesem „Gehege“ befindenden Schildkröten sich wohl in einigen Augenblicken wieder auf gefährliche Wanderschaft gemacht hätten. Alle Terrarien, die - völlig unterernährte - Reptilien enthielten, deren Haltung bewilligungspflichtig war, entsprachen nicht den Mindestanforderungen. Von diesem Schulungszentrum hat man nach unserer Inspektion nie wieder etwas gehört.

 

Die Beispiele lernen uns, dass es immer wieder „Tierfreunde“ gibt, die  mit der Haltung von Haus- oder Wildtieren heillos überfordert sind und – aus welchen Gründen auch immer – dies nicht selbst merken oder merken wollen. Oft gehen sie von der Annahme aus, sie würden für ihre Tiere das Richtige tun.

 

 

4. Die erste Revision des Kapitels 4, des Anhangs 2

Bei meiner Arbeit am BLV stellte ich mit einigem Unbehagen allerdings bald einmal fest, dass persönliche Ansichten respektive der Wunsch des Zoologen nach einer optimalen Haltung in jedem Fall hinten anstehen mussten und es sich bei dieser amtlichen Tätigkeit in erster Linie darum handelte, zu überprüfen, ob die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten wurden. Ein wichtiges Element für die Beurteilung bildete dabei der Anhang 2 der Tierschutzverordnung „Mindestanforderungen für das Halten von Wildtieren“. Diese Mindestanforderungen gaben (und geben) immer wieder zu Diskussionen Anlass. In erster Linie deshalb, weil sie falsch verstanden werden. Es handelt sich nämlich nicht um Haltungsempfehlungen oder gar Kriterien für eine gute Haltung, sondern sie legen das absolute, noch akzeptable Minimum fest. Weniger ist nicht nur nicht tiergerecht, sondern vor allem auch gesetzeswidrig, ist ein Verstoss gegen die Tierschutzvorschriften und deshalb strafbar. Leider orientierten (und orientieren) sich immer wieder Tierhalter an diesen Mindestanforderungen, selbst beim Bau neuer Anlagen und dies entspricht nicht der Absicht des Gesetzgebers. Ohne Festlegung solcher Mindestanforderungen ist aber eine griffige und sinnvolle Umsetzung der Haltungsvorschriften durch die Vollzugsorgane kaum möglich oder wie die Erfahrung aus Ländern zeigt, welche solche gesetzlich festgelegten Mindestanforderungen nicht kennen, unendlich viel schwieriger und komplizierter. Da die Haltung von Wildtieren ein enorm dynamisches Gebiet ist, in welchem fast alltäglich neue Erfahrungen gemacht und neues Wissen angereichert werden, ist es nicht verwunderlich, dass sich eine Revision dieses Anhangs 2 nach rund 20 Jahren aufdrängte. So beauftragte ich in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts den Diplomzoologen Bruno Mainini mit der Ausarbeitung des Entwurfs für einen revidierten Anhang 2. Gemäss den Auflagen der Tierschutzgesetzgebung, die Haltung müsse den Erkenntnissen der Wissenschaft und dem Stand der Erfahrung entsprechen, versuchte Bruno Mainini vorerst über eine Literaturrecherche herauszufinden, welche Änderungen sich als Folge neuer wissenschaftlicher Publikationen und Erkenntnisse auf dem Gebiet der Wildtierhaltung (bzw. Tiergartenbiologie) aufdrängten. Dabei zeigte es sich, dass es überaus schwierig war – und auch heute noch ist - solche Forschungsarbeiten zu finden, die bestimmte Aspekte der Haltung einer Tierart wissenschaftlicher Prüfung unterzogen. Das BLV selbst hat über mehrere Jahre eine Arbeit unterstützt, wo es darum ging, ausgehend von einem sehr komplexen Haltungssystem für Wildkatzen (=“optimale Haltung“) durch schrittweise Reduktion einzelner Elemente der Raumstruktur und der Raumdimension, sich den Mindestanforderungen anzunähern und letztlich die Mindestanforderungen zu definieren (abzulesen u.a. am Verhalten des Tieres). Meines Wissens handelte es sich um die einzige bisher bekannte Arbeit dieser Art, die leider, so lange ich am BLV tätig und für Fragen der Wildtierhaltung zuständig war, nie ganz zu Ende geführt wurde.

 

So blieb denn Bruno Mainini vor allem der zweite Weg, nämlich das Wissen aufgrund praktischer Erfahrung zu sammeln. Er besuchte zu diesem Zweck diverse Zoos in der Schweiz in Österreich und in Deutschland und holte sich das Wissen direkt von den Zooverantwortlichen und den Tierpflegern über die ihrer Ansicht nach erforderlichen Mindestanforderungen für eine akzeptierbare Haltung der von ihnen betreuten Tierarten. Dabei galt sein Augenmerk nicht nur der Raumquantität (Grundfläche, Volumen), sondern auch der Raumqualität (den Strukturen und Einrichtungselementen). Das Resultat seiner Arbeit wurde danach noch eingehend mit den Spezialisten für einzelne Tiergruppen (Säugetiere, Vögel, Reptilien) der wissenschaftlich geleiteten Zoos der Schweiz und privaten Fachkreisen durchbesprochen und letztlich wurde das Ergebnis im Jahre 2001 als revidierter Anhang 2 der TSchV veröffentlicht. Auch dieser den neuen Erfahrungen und Erkenntnissen angepasste Anhang 2 wurde, wie nicht anders zu erwarten, von bestimmten Kreisen schon bald nach seiner Veröffentlichung kritisiert. Es schien jedoch, dass diese Kritik mehrheitlich darauf basierte, dass er, wie schon der alte und wie oben geschildert, in seiner Absicht missverstanden wurde (keine Haltungsempfehlungen!) oder weil die Kritiker die Gehege allein nach der Maxime „je grösser, umso besser“ beurteilten oder aber weil nicht beachtet wurde, dass der Aspekt der Raumqualität im revidierten Anhang 2 massiv erweitert worden war. Wie dem auch sei, man hatte doch manche Mängel des ersten Anhangs 2, ausgemerzt, auch in der Praxis umsetzbare Verbesserungen aufgenommen und besass eine neue Grundlage für den Vollzug, von der man hoffte, sie werde nun einige Jahre bestehen bleiben und damit sowohl der Tierhaltern, wie den Vollzugsorganen eine langfristige Rechtssicherheit geben.

 

5. Die zweite Revision des Kapitels 4, des Anhangs 2 und die neue Tierschutzgesetzgebung 2008

Es erstaunt deshalb nicht, dass ich, als es im Jahre 2003 darum ging, die vollständige Revision der Tierschutzgesetzgebung anzugehen, mit der Leitung einer „Arbeitsgruppe Wildtierhaltung“ beauftragt wurde, welche die explizite Aufgabe erhielt, das Kapitel 4 und den Anhang 2, die ja gerade erst revidiert worden waren, nicht von Grund auf neu zu verfassen, sondern nur „Garantiearbeiten“ durchzuführen und punktuell nur solche Änderungen anzubringen, die sich aufgrund der Erfahrungen im Vollzug seit 2001 aufdrängten. In einigen Sitzungen unter Einbezug von Fachleuten aus dem Zoo- und dem privaten Sektor, von Vertretern der Vollzugsorgane und des Tierschutzes konnte dem BLV in Erfüllung des Auftrages letztlich ein solch punktuell revidiertes Kapitel 4 und ein punktuell revidierter Anhang 2 vorgelegt werden. Und dann passierte Ungeheuerliches: Am grünen Tisch ging jemand über unser Ergebnis und multiplizierte ohne unser Wissen und ohne unser Einverständnis insbesondere einzelne Masse für die Gehegedimensionen (Fläche und/oder Volumen) völlig willkürlich mit einem Faktor 1,5 oder 2. Eine Logik in diesem Vorgehen war nicht erkennbar, es gab (und gibt) keine wissenschaftlichen Erkenntnisse „der Physiologie, Verhaltenskunde oder Hygiene“, welche dieses Vorgehen rechtfertigten und es fehlten auch entsprechende Erfahrungswerte. Zwar krebste das BLV in einigen Fällen wieder zurück, aber das letztlich unter hohem Zeitdruck "verschlimmbesserte" Ergebnis blieb leider, wie unten illustriert wird, mangelhaft. Effektiv wurden so im Jahre 2008, also bloss 7 Jahre seit der letzten Revision (im Jahre 2001) neue Mindestanforderungen rechtskräftig, die erneute bauliche Veränderungen und grosse finanzielle Investitionen in gewerbsmässigen und privaten Wildtierhaltungen erforderlich machten, oder einzelne Halter zur Aufgabe der Haltung einzelner Tiere veranlassten (wobei diese Tiere dann – wenn sie nicht getötet werden - nicht selten in überforderten Auffangstationen landen, welche die gesetzlichen Anforderungen ebenfalls nicht erfüllen). So viel zum Thema der Rechtssicherheit speziell von Wildtierhaltern.

 

Seither sind wieder etliche Jahre vergangen und an den Bestimmungen unserer Tierschutzgesetzgebung insbesondere was die Haltung von Wildtieren anbelangt, ist weiter und fortwährend „herumgeschraubt“ worden. Dies keineswegs nur zum Besten, wie folgende Beispiele absurder und unerklärlicher Vorschriften des Anhangs 2 TSchV zeigen:

  • Für Tanreks gehen die Vorschriften von der Haltung von Einzeltieren aus. Tanreks aber sollten paarweise oder gar in Kleingruppen gehalten werden (Ziffer 38).
  • Bei den Gürteltieren ist nicht angegeben, für welche Tierzahl die Vorschriften gelten (Ziffer 33).
  • Die tropischen Coendus werden gleich behandelt, wie der Urson aus dem borealen Wald Nordamerikas: Es ist ein Aussengehege vorgeschrieben, anstelle eines Innengeheges (Ziffer 61).
  • Während für 2 Eichhörnchen ein Innen- und ein Aussengehege mit einer Fläche von je 8 m2 und einem Volumen von je 20 m3 gefordert werden (Ziffer 49), ist es für 1 (!) bloss etwas kleineres Streifenhörnchen nur ein Innengehege mit gerade mal 0,5 m2 und 0,75 m3 (Ziffer 47).
  • 2 kleine Beutelratten benötigen nur gerade 0.5 m2 und 0,35 m3 (Ziffer 3); auf derselben Fläche können aber bis zu 5 mongolische Rennmäuse, Ratten oder Degus gehalten werden (Ziffern 43, 44, 45).
  •  Obwohl das Körpergewicht der Acouchis, Agutis, Pakas und Pakaranas von 0,6 bis 15 kg ganz enorm variiert, werden sie alle gemeinsam behandelt (Ziffer 54). U. a. wird für diese Arten ein Innen- und Aussengehege vorgeschrieben, wobei letzteres für bodenbewohnende Arten des tropischen Regenwaldes keinen Sinn macht. Zudem fehlt beim Pakarana eine Mindesthöhe, obwohl es sich um eine kletternde Art handelt.
  • Für 5 Viscachas, die in Chile in den Anden in 4000 m Höhe leben, sind dagegen keine Aussengehege erforderlich, sondern nur ein Innengehege von 20 m2 (Ziffer 55). Für die etwas kleineren Murmeltiere ist jedoch für 6 Tiere ein Aussengehege von 150 m2 nötig (Ziffer 56), notabene die gleiche Fläche, wie für 5 Capybaras, das grösste Nagetier der Welt (Ziffer 58). (zugegeben, für die 5 Capybaras ist zusätzlich noch ein Bassin von 6m2 Fläche vorgeschrieben). Es wird auch nicht ersichtlich, wieso Viscachas, die in unterirdischen Bauten hausen und Springhasen, die schnellen Läufer und Springer in einer Kategorie zusammengefasst werden.
  • Für 2 Hasen sind mindestens 150 m2 erforderlich (Ziffer 64), was die Gefahr in sich birgt, dass die Tiere wenn sie aus irgend einem Grund flüchten, sich den Kopf in der Umzäunung einschlagen könnten. Übrigens: Die wenig kleineren Wildkaninchen benötigen, für 5 Tiere, bloss 30 m2 (Ziffer 65). (5 gleich grosse Hauskaninchen gar nur 1,7 m2).
  • 2 Wildkatzen benötigen ein Aussengehege, das im Minimum 40 m2 und 120 m3 gross ist,(Ziffer 96), während für 2 etwa drei Mal grössere Luchse bloss 30 m2 und 75 m3 erforderlich sind (Ziffer 97).
  • Für die üblicherweise nicht auf Bäume kletternden Löwen und Tiger ist ein – umzäuntes - Volumen von 240 m3 vorgeschrieben (Ziffer 99).
  • Während für 4 Wölfe mindestens 400m2 vorhanden sein müssen (Ziffer 72) reichen für 4 Geparde, das schnellste Säugetier der Welt, 240 m2 aus (Ziffer 100).
  • 2 Nashörner brauchen gleich viel Platz, wie 3 weit grössere Elefantenkühe, nämlich 500 m2 (Ziffern 102 und 112).
  • Für asiatische Nashörner ist explizit ein Bassin von 10m2 vorgeschrieben (Ziffer 10 in Tabelle 3), nicht aber für Elefanten.
  • 2 Rehe benötigen gleich viel Platz wie (die etwa gleich grossen und ähnlich lebenden) 8 mittelgrosse Hirsche, 10 Springböcke, und 10 Mufflons oder (die viel grösseren) 4 Giraffen, 5 Wisente oder 5 Bisons, nämlich 500m2 (Ziffern 123, 124,128, 133, 135, 137)
  • Was Afrikanische Strausse betrifft (Ziffer 1 Tabelle 2), sind für 2 Tiere 1100 m2 und für 3 Tiere 1600 m2 erforderlich. Es wird dabei kein Unterschied gemacht, ob die Tiere vom Futterangebot der natürlichen Weidefläche (wie in der landwirtschaftlichen Straussenhaltung) leben oder auf befestigten Böden mit ausreichendem Futterangebot (wie im Zoo) gehalten werden. Zudem zeigt ein Vergleich dieser Flächenmindestanforderungen mit anderen (z.B. Elefanten, Giraffen, Zebras, Nandus, Emus etc.), dass das Prinzip der Verhältnismässigkeit nicht eingehalten wird.
  • Für die nicht flugfähigen Pinguine sind Volumenmasse einer Voliere vorgeschrieben (Ziffern 5 und 6, Tabelle 2)
  • Für Aras und Kakadus, die teilweise relativ kleine Arten wie den Gebirgsara, den Goldnackenara, den Goffinkakadu oder den Nasenkakadu umfassen, sind generell 10m2 und 30m3 erforderlich (Ziffer 10, Tabelle 2), während gleich grosse oder grössere Amazonen oder Graupapageien auf 0,7 m2 und 0,84 m3 gehalten werden dürfen (Ziffer 31, Tabelle 2). 4 Unzertrennliche, bzw. kleine Sittiche sogar bloss auf 0,24 m2 und 0,12 m3 (Ziffer 33, Tabelle 2). 
    Anzumerken ist, dass diese Mindestanforderungen für Aras und Kakadus für eine Privathaltung dieser Tiere prohibitiv sind.
  • Für 3 Walrosse wäre ein Gehege von 45 m2 plus ein Bassin von 250m2 und 10 Meter Tiefe erforderlich (Ziffer 17, Tabelle 3). Man stelle sich dieses Bassin dreidimensional vor: Ein Quader von 15 Metern Länge und Breite mit einer Höhe von 10 Metern in den Boden versenkt. Es gibt nicht nur auf der ganzen Welt kein solches Bassin für Walrosse, schlimmer noch, die Tiere benötigen in keiner Weise eine solche Wassertiefe. Sie fressen Muscheln, und wenn diese 2 Meter unter der Oberfläche sind, dann tauchen sie halt bloss 2 Meter, statt 250 Meter, was sie auch tun können (aber nicht tun müssen!).

 

Es ist erstaunlich, dass diese Missstände, auf die ich hier bereits vor 10 Jahren hingewiesen habe, auch heute noch unverändert in diesem Anhang zur Verordnung stehen. Und ich bin sicher, würde man sorgfältig suchen, würden sich noch weitere Absurditäten finden lassen.

 

Grundsätzlich wäre auch anzumerken, dass die diversen Bewilligungsverfahren unklar und so kompliziert geregelt sind, dass man sich ohne fachliche Hilfe im Paragraphendschungel kaum noch zurechtfindet. (S. dazu meine Stellungnahme an das BLV zum  Bewilligungsverfahren für die Haltung von Wildtieren vom 27. November 2012).

 

Nach wie vor enthält auch das neue Tierschutzgesetz den Grundsatz, dass niemand „ungerechtfertigt einem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen oder es in Angst versetzen darf“. Neu kommt dazu „oder in anderer Weise seine Würde missachten“. Was unter „Würde“ zu verstehen ist, wird ebenfalls gesagt: „Eigenwert des Tieres, der im Umgang mit ihm geachtet werden muss. Die Würde des Tieres wird missachtet, wenn eine Belastung des Tieres nicht durch überwiegende Interessen gerechtfertigt werden kann. Eine Belastung liegt vor, wenn dem Tier insbesondere Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden, es in Angst versetzt oder erniedrigt wird, wenn tief greifend in sein Erscheinungsbild oder seine Fähigkeiten eingegriffen oder es übermässig instrumentalisiert wird.“ Es tauchen da Begriffe , wie „Würde“, „erniedrigt“, „instrumentalisiert“ „tiefgreifend in seine Fähigkeiten eingreifen“ auf, welche nicht objektiv naturwissenschaftlich fassbar, sondern recht schwammig und wohl reichlich persönliche Ansichtssache und persönliche Meinung und auf persönlicher Interessenlage beruhend sind. Also reichlich Futter für die Juristen und Gerichte (s. dazu das Referat von Dr. S. Häsler vom 8. Juni 2007 und das Referat von Prof. A. Steiger vom März 2011)

 

Zudem schreibt auch das neue Tierschutzgesetz vor, dass, „wer mit Tieren umgeht, ihren Bedürfnissen in bestmöglicher Weise Rechnung zu tragen, und soweit es der Verwendungszweck zulässt, für ihr Wohlergehen zu sorgen“ hat. Was den Begriff „Bedürfnis“ anbelangt, so begibt sich der Gesetzgeber aufs Glatteis (s.u.). Der neu statt „Wohlbefinden“ eingeführte Begriff „Wohlergehen“ dagegen, wird objektiv fassbarer definiert: „Wohlergehen" der Tiere ist namentlich gegeben, wenn:

1. die Haltung und Ernährung so sind, dass ihre Körperfunktionen und ihr Verhalten nicht gestört sind und sie in ihrer Anpassungsfähigkeit nicht überfordert sind,

2. das artgemässe Verhalten innerhalb der biologischen Anpassungsfähigkeit gewährleistet ist,

3. sie klinisch gesund sind,

4. Schmerzen, Leiden, Schäden und Angst vermieden werden.

Diese Definition ist objektiv und enthält klare Parameter, die jedoch teilweise ebenfalls noch operationalisiert werden müssten (was heisst z.B. „ihr Verhalten nicht gestört“, „ihre Anpassungsfähigkeit nicht überfordert“, „Angst vermieden wird“?).

 

Ebenfalls in der neuen Tierschutzverordnung sind nach wie vor die folgenden Bestimmungen unter dem Titel „Tiergerechte Haltung“ zu finden: „Tiere sind so zu halten, dass ihre Körperfunktionen und ihr Verhalten nicht gestört werden und ihre Anpassungsfähigkeit nicht überfordert wird.“ Und „Fütterung und Pflege sind angemessen, wenn sie nach dem Stand der Erfahrung und den Erkenntnissen der Physiologie, Verhaltenskunde und Hygiene den Bedürfnissen der Tiere entsprechen“. Dass gewisse gleichartige Forderungen in unterschiedlichem Kontext und Zusammenhang wiederholt werden, macht die Sache übrigens nicht einfacher.

 

6. Der Bedarfsansatz

Der Gesetzgeber erwartet also, dass für jedermann klar erkennbar ist, wenn die „Würde missachtet“, oder „den Bedürfnissen nicht Rechnung getragen wird“, „Verhalten gestört ist“ oder „die Anpassungsfähigkeit überfordert wird“, „artgemässes Verhalten gewährleistet ist“, „Angst vermieden“ und „Leiden zugefügt“ wird. Wie erkennen wir das? Wie messen wir das? Wir benötigen Kriterien zur Bewertung der Tiergerechtheit von Haltungssystemen oder Haltungsbedingungen für Tiere und der Tiergerechtheit des Umgangs mit Tieren. 

 

In einem Beitrag zum „Buch vom Tierschutz“ stellt H.H. Sambraus einige dieser „Indikatorenkonzepte“ vor. Ich möchte in der Folge speziell auf das sogenannte „Bedarfsdeckungs- und Schadensvermeidungskonzept“ von Prof. Beat Tschanz näher eingehen, dessen Entwicklung ich an der ethologischen Station der Universität Bern hautnah mitverfolgte.

 

Das Konzept geht von der Tatsache aus, dass Lebewesen, im Unterschied zu unbelebten Gegenständen, sich selbst aufbauen, sich selbst erhalten und sich fortpflanzen. Daraus wird abgeleitet, dass Lebewesen einen organischen Bedarf (nicht ein „Bedürfnis!) nach Stoffen und bestimmten – günstigen - Bedingungen (Reizen) aus ihrer Umgebung haben, die sie aufsuchen und nutzen. Ihr Verhalten dient also einerseits der Bedarfsdeckung und damit dem Selbstaufbau, der Selbsterhaltung und der Fortpflanzung. Selbstaufbau, Selbsterhalt und auch Fortpflanzung sind allerdings auch von der Fähigkeit der Lebewesen abhängig, schädigende Einflüsse (Schadstoffe, ungünstige Bedingungen) zu vermeiden. Ihr Verhalten dient also andererseits auch der Schadensvermeidung. Damit werden Bedarfsdeckung und Schadensvermeidung als die grundlegenden Funktionen tierischen Verhaltens angesehen, welches dem Individuum ermöglicht sich erfolgreich mit der Umgebung und mit sich selbst auseinanderzusetzen.

 

Wie kann nun aber festgestellt werden, ob diese Auseinandersetzung erfolgreich war/ist, es dem Tier also tatsächlich gelingt, seine Bedarfe zu decken und Schäden zu vermeiden ? Um das zu tun, muss der „Typus“ des Tiers definiert werden können. Dieser „Typus“ ist der Normalbereich der Ausprägung von Verhaltensmerkmalen und körperlichen Merkmalen. Er kann mit mathematisch-statistischen Methoden aber auch anhand von Fakten deskriptiv festgelegt werden. Es gilt also, diese Normalausprägung der erwähnten Merkmale in einem „Referenzsystem“ zu erfassen, das dem Tier nach allem, was wir wissen, erfolgreiche Bedarfsdeckung und Schadensvermeidung (und auch Fortpflanzung) ermöglicht. Dieses Referenzsystem kann der natürliche Lebensraum aber auch ein nach menschlichem Ermessen „optimales Haltungssystem“ sein. So wie sich das Tier dort verhält und so wie es sich dort körperlich entwickelt, bezeichnen wir als „Typus“ oder als „normal“. Um die Tiergerechtheit eines Haltungssystems zu evaluieren, gilt es nun Verhaltensmerkmale und körperliche Merkmale der in menschlicher Obhut gehaltenen Tiere mit denen von Tieren aus dem Referenzsystem zu vergleichen. Gelingt es den Tieren auch unter ev. eingeschränkteren Haltungsbedingungen in menschlicher Obhut den „Typus“ zu verwirklichen, kann geschlossen werden, dass ihnen Bedarfsdeckung und Schadensvermeidung uneingeschränkt möglich ist. Damit ist Tiergerechtheit mit naturwissenschaftlichen Methoden überprüfbar. „Bedürfnis“ und „Bedürfnisbefriedigung“, „Wohlbefinden“, „Leiden“ und „Angst“, ja sogar „Schmerzen“ gehören dagegen, wie B. Tschanz unterstrich, zum subjektiven Empfinden, können mit naturwissenschaftlichen Methoden folglich nicht erfasst werden und sind zur objektiven Evaluation der Tiergerechtheit eines Haltungssystems deshalb nicht sonderlich geeignet (s.u.). Wenn jedoch erhebliche Abweichungen vom Typus, z. B. als körperliche Fehlentwicklungen oder körperliche Schäden oder aber als sogenannte „Verhaltensstörungen“ festgestellt werden, dann sind diese tierschutzrelevant und machen eine Überprüfung und gegebenenfalls Verbesserung der Haltungsbedingungen erforderlich. Was die Verhaltensstörungen anbelangt, so handelt es sich in der Regel um folgende Kategorien: Handlungen am nicht-adäquaten Objekt, veränderte Verhaltensabläufe, in der Frequenz stark von der Norm abweichendes Verhalten, Stereotypien, Apathie.

 

 

Daraus ist folgende wichtige Erkenntnis abzuleiten: Die Tiergerechtheit eines Haltungssystems (einschliesslich des Umgangs) ist am Tier, seinem körperlichen Zustand, seiner Konstitution, der normalen Ausprägung seiner Körpermerkmale und seinem Verhalten, also der normalen Ausprägung seiner Verhaltensmerkmale und Verhaltensreaktionen und damit dem Grad der Verwirklichung des Typus abzuleiten – und nicht am Haltungsystem, bzw. seiner Haltungsumgebung (Gehegedimension, Gehegeeinrichtung usw.) ! Dazu muss man allerdings wissen, wie die Tiere auszusehen haben und was zu ihrem Normalverhalten gehört. Und das ist nun wirklich nicht jedermanns Sache sondern braucht Spezialisten für jede einzelne Tierart. Übrigens: Dabei ist es keineswegs erforderlich, dass das Tier in menschlicher Obhut jede Verhaltensweise zeigt (oder zeigen können muss), zu der es fähig ist. Man erinnere sich daran: Verhalten dient nicht einem Selbstzweck, sondern der Bedarfsdeckung, Schadensvermeidung und Fortpflanzung. Es ist folglich durchaus möglich, dass das Tier in menschlicher Obhut nicht sein ganzes Repertoire an Verhaltensweisen ausschöpfen muss, um sich erfolgreich selbst aufzubauen, sich selbst zu erhalten und sich fortzupflanzen.

 

Und nun doch noch etwas zu den Begriffen „Schmerz“, „Angst“ und „Leiden“, die wir nicht zuletzt auch in der Umgangssprache benutzen. Dabei handelt es sich, wie gesagt, um subjektive Empfindungen und diese sind per se nicht naturwissenschaftlich nachweisbar. Es kann nur auf sie geschlossen werden. Ein solcher Schluss ist, als „Analogieschluss“ nur vom Menschen aus auf das Tier möglich. Weil Tiere in bestimmten Situationen objektiv erfassbare Verhaltensreaktionen und teilweise entsprechende physiologische und neurophysiologische Reaktionen zeigen, die denen des Menschen entsprechen, ziehen wir den Schluss, dass beim Tier dem Menschen analoge Empfindungen vorhanden sein müssen. Ob das Tier tatsächlich gleichartig empfindet, können wir nicht mit Bestimmtheit sagen oder nachweisen. Merkmale für „Schmerz“ sind beispielsweise gellende Schreie, unorganische Bewegungsabläufe, Abwehrverhalten, Zittern, Schweissausbrüche, weit aufgerissene Augen, Schonen einer Extremität, Stöhnen. Merkmale für „chronischen Schmerz“ bzw. „Leiden“ sind beispielsweise, Teilnahmslosigkeit, Apathie, veränderter Gesichtsausdruck, fehlende Körperpflege. Zu den Merkmalen für „Angst“ gehören beispielsweise weitaufgerissene Augen, veränderte Mimik, Zittern, Verkrampfen, spezielle Lautäusserungen, erhöhte Pulsfrequenz, aus der Situation weg wollen, panisches Davonstürmen ohne Rücksicht auf Hindernisse, häufiger Absatz von Harn und wässrigem Kot ohne entsprechendes Ausscheidungsritual, Zusammendrängen mit Artgenossen. 

 

Also gilt auch hier: Es ist das Verhalten des Tieres, das uns Analogieschlüsse auf „Schmerz“, „Leiden“ und „Angst“ ermöglicht. Nicht die Grösse und Struktur seiner Haltungsumgebung oder die Art des Umgangs mit ihm.

 

In diesem Zusammenhang und zum Abschluss noch ein sehr beherzigenswertes Zitat aus dem bereits erwähnten Buch „Bruder Hund & Schwester Katze“ vom Psychoanalytiker Prof. Jürgen Körner: „Der Mensch versucht sich mit Hilfe der Einfühlung in die Tiere hineinzuversetzen. Allerdings ist diese Einfühlung immer illusionär, denn natürlich wissen wir nicht einmal was in einer anderen Person und erst recht nicht, was in einem Tier vorgeht. Zudem ist unsere Einfühlung niemals frei von unseren eigenen Fantasien und Wünschen. Sie ist ein Deutungsversuch in dem wir allzu leicht unsere eigenen Absichten und Bedürfnisse zur Geltung bringen. Denn die Frage „Was fühlt der andere jetzt ?“ ist doch eine Frage, die wir an uns selbst stellen: „Was würde jetzt ich an seiner Stelle fühlen ?“ Wir können gar nicht wissen, was unser Hund (bzw. jedes andere Tier) wirklich erlebt. Wir nehmen ihn so, als wäre er ein Mensch. Aber was wir für ihn fühlen, ist unser Gefühl und nicht seines.